2. Einsichtsverfahren

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Gemäss Art. 16 Abs. 1 FusG müssen die fusionierenden Gesellschaften den Fusionsvertrag, den Fusionsbericht, den Prüfungsbericht sowie die Jahresrechnungen und die Jahresberichte der letzten drei Geschäftsjahre und gegebe­nenfalls die Zwischenbilanzen ihren Gesellschaftern während 30 Tagen vor der Beschlussfassung zur Einsicht auflegen. Das Einsichtsverfahren gibt den Gesellschaftern Zugang zu den Informationen, die sie für die Beschlussfassung über die Transaktion benötigen. Von besonderer Bedeutung ist das Einsichtsrecht, wenn Gesellschafter und Exekutivorgane personell getrennt sind, wie dies z.B. bei einer Publikumsgesellschaft der Fall ist. Zwischen den Gesellschaftern und den obersten Leitungs- und Verwaltungsorganen besteht in diesem Fall eine ausgeprägte Informationsasymmetrie. Damit die Gesellschafter sinnvoll über das Fusionsvorhaben entscheiden können, sind sie auf Informationen über die Einzelheiten der vorgesehenen Fusion und ihren wirtschaftlichen Hintergrund angewiesen. Das Einsichtsverfahren ermöglicht ihnen Zugriff auf diese Informationen. Bei KMU kann mit dem Einverständnis sämtlicher Gesellschafter auf das Einsichtsverfahren verzichtet werden (Art. 16 Abs. 2 FusG).607

2.1 Verfahrensablauf, Berechtigte und Verpflichtete
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Die Einsicht in die Fusionsdokumente ist am Sitz jeder der an der Fusion be­­teiligten Gesellschaften zu gewähren. Dabei müssen an jedem Gesellschaftssitz sämtliche Unterlagen aller an der Fusion beteiligten Gesellschaften verfügbar sein (Art. 16 Abs. 1 FusG).608 Relevant ist dies namentlich bei den Geschäftsberichten, die von vornherein für jede Gesellschaft gesondert erstellt werden. Davon betroffen können aber auch der Fusionsbericht und der Prüfungsbericht sein, sofern diese Dokumente für jeden Fusionspartner separat erstellt wurden.609 Die Regel, wonach die Unterlagen betreffend sämtliche beteiligten Gesellschaften an allen Gesellschaftssitzen verfügbar sein müssen, entspricht einem direkten praktischen Bedürfnis: Die Gesellschafter einer fusionierenden Gesellschaft werden typischerweise nicht primär auf Informationen zum ­eigenen Unternehmen, sondern auf solche zur Gesellschaft, mit denen ihr Unternehmen fusionieren soll, angewiesen sein. Die Regelung des Einsichts­ver­fahrens stellt deshalb sicher, dass die Gesellschafter Informationen über die Fusionsgegenpartei direkt beim eigenen Unternehmen einsehen können.

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Zur Einsichtnahme berechtigt sind gemäss Art. 16 Abs. 1 FusG nur die Gesellschafter der an der Fusion beteiligten Unternehmen. Ein Stimmrecht in der Beschlussfassung nach Art. 18 FusG ist aber nicht erforderlich.610 Dritte, namentlich Gläubiger der beteiligten Gesellschaften, haben kein vorgängiges Einsichtsrecht.611 Immerhin haben die Arbeitnehmer der fusionierenden Ge­­sellschaften gemäss Art. 28 Abs. 1 FusG einen Anspruch auf Konsultation i.S.v. Art. 333a OR.612 Diese Konsultation entspricht zwar nicht dem Einsichtsrecht der Gesellschafter, sorgt aber für einen gewissen Informationsfluss zugunsten der Arbeitnehmer, und zwar bevor der Fusionsbeschluss gefällt wird. Das oberste Leitungs- oder Verwaltungsorgan hat die Generalversammlung anlässlich der Beschlussfassung über das Ergebnis der Konsultation zu informieren (Art. 28 Abs. 2 FusG). Nachdem die Fusion im Handelsregister eingetragen ist, sind gewisse der in Art. 16 Abs. 1 FusG aufgezählten Transaktionsdokumente als Belege der Handelsregisteranmeldung für jedermann einsehbar.613 Somit ergeben sich auch für die Gläubiger aus dem Vorbehalt des Einsichtsrechts zugunsten der Gesellschafter keine wesentlichen Nachteile, da die Massnahmen des Gläubigerschutzes der Rechtswirksamkeit der Fusion nachgelagert sind.614

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Die fusionierenden Gesellschaften müssen ihre Gesellschafter in geeigneter Form auf die Möglichkeit zur Einsichtnahme hinweisen (Art. 16 Abs. 4 FusG). Die Gesellschafter müssen überhaupt einmal Kenntnis von ihrem Einsichtsrecht erhalten. Dieses Ziel bestimmt auch, in welcher Form und mit welchem Mittel die Gesellschafter auf das Einsichtsrecht hinzuweisen sind. Kennt die Gesellschaft ein besonderes Publikationsorgan615, so kann der Hinweis darin platziert werden. Eine Publikation im SHAB ist nicht zwingend erforderlich; falls alle Gesellschafter bekannt sind, kann auch ein Brief an diese genügen.616

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Nach Art. 16 Abs. 3 FusG müssen die Fusionsunterlagen, welche der Einsicht zugänglich sind, den Gesellschaftern auf Verlangen in Kopie zugestellt werden. Der Anspruch richtet sich wiederum gegen jede der fusionierenden Gesellschaften, also nicht nur gegen die Gesellschaft, an welcher der ersuchende Gesellschafter beteiligt ist. Die Kopien müssen unentgeltlich abgegeben und den Gesellschaftern auf Verlangen innert nützlicher Frist zugestellt werden.617 Es stellt sich die Frage, ob der elektronische Zugang bzw. die Zustellung der relevanten Dokumente in elektronischer Form ausreichend ist. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung des Internets erscheint die Auflage und Zustellung der Dokumente in elektronischer Form zeitgemäss, aus administrativen Gründen sinnvoll und ist daher unseres Erachtens zu bejahen. Zumindest soll den Gesellschaftern die Wahl zustehen, ob sie die relevanten Unterlagen in elektronischer Form beziehen wollen. Im Einzelfall kann auch weiterhin die Pflicht zur Abgabe der Dokumentation in physischer Form bestehen, da beispielsweise Gesellschafter ohne Zugang zum Internet nicht an der Ausübung des Einsichtsrechts gehindert werden dürfen.618 Eine solche Beschränkung könnte als rechtsmissbräuchliches Verhalten qualifiziert werden.

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Die Fusionsunterlagen müssen mindestens 30 Tage vor der Beschlussfassung der Gesellschafter zur Einsicht aufliegen und ab diesem Zeitpunkt den Gesellschaftern auf Verlangen auch zugestellt werden. Bei der Fristberechnung sind der Tag, an dem der Hinweis auf die Einsichtsmöglichkeit publiziert wird, und der Tag der Beschlussfassung nicht mitzuzählen, analog zur Praxis für die Einberufung der Generalversammlung einer Aktiengesellschaft nach Art. 700 Abs. 1 OR.619 Die Einsicht muss während der gesamten 30-tägigen Dauer gewähr­leistet sein. Allfällige kürzere Einberufungsfristen (namentlich die 20-tägige Frist zur Einberufung der Generalversammlung einer Aktiengesellschaft nach Art. 700 OR) werden durch die Frist für das Einsichtsverfahren nach Art. 16 Abs. 1 FusG faktisch verdrängt, soweit es den Fusionsbeschluss betrifft.

2.2 Umfang des Einsichtsrechts
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Die zur Einsicht aufliegenden Dokumente sind in Art. 16 Abs. 1 FusG aufge­listet. Es geht dabei namentlich um den Fusionsvertrag, den Fusionsbericht, den Prüfungsbericht sowie die Jahresrechnungen und Jahresberichte der letzten drei Geschäftsjahre und gegebenenfalls die Zwischenbilanz. Diese Auflistung ist abschliessend.620 Im konkreten Fall kann sich die Anzahl der Dokumente re­­duzieren: So ist etwa gemäss Art. 14 Abs. 5 FusG bei der Fusion zweier Vereine kein Fusionsbericht zu erstellen. Ein schriftlicher Prüfungsbericht eines zu­­gelassenen Revisionsexperten ist gemäss Art. 15 Abs. 1 FusG nur erforderlich, wenn die übernehmende Gesellschaft eine Kapitalgesellschaft621 oder eine Genossenschaft mit Anteilscheinen ist. KMU können mit Zustimmung aller Gesellschafter auf die Erstellung eines Fusions- und/oder Prüfungsberichts verzichten622 oder gemäss Art. 16 Abs. 2 FusG gänzlich vom Einsichtsverfahren absehen.623

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Das Fusionsgesetz legt nicht nur fest, welche Dokumente dem Einsichtsrecht unterstehen, sondern bestimmt indirekt auch den Mindestinhalt, den diese Dokumente aufweisen müssen. Die objektiv wesentlichen Punkte, die ein Fu­­sionsvertrag enthalten muss, sind in Art. 13 Abs. 1 FusG umschrieben, die Berichtspunkte des Fusionsberichts sind in Art. 14 Abs. 1 FusG aufgezählt, und die Aussagen des Prüfungsberichts werden in Art. 15 Abs. 4 FusG skizziert. Dieser gesetzlich vorgesehene Minimalinhalt muss in jedem Fall offengelegt werden.

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In der Praxis gehen vor allem Fusionsverträge inhaltlich über das hinaus, was Art. 13 Abs. 1 FusG als Minimum zwingend vorschreibt.624 Damit stellt sich die Frage, ob diese zusätzlichen Vertragsbestimmungen ebenfalls dem Einsichtsrecht unterstehen. Der Zweck von Art. 16 FusG ist eindeutig: Das Einsichtsrecht dient der Willensbildung der Gesellschafter.625 Diese sollen «en connaissance de cause» über die Fusion beschliessen können.626 Im Zusammenhang mit einer Generalversammlung einer Aktiengesellschaft entschied das Bundesgericht, dass der Verhandlungsgegenstand in den Einberufungsunterlagen klar verständlich sein muss,627 damit gültig über ein Sachgeschäft beschlossen werden kann. Dieser Standard muss auch für den Fusionsbeschluss gelten. Offengelegt werden muss, was für die korrekte Willensbildung der Gesellschafter notwendig 628 und wesentlich 629 ist. Die offengelegten Informationen müssen korrekt sein. Zudem darf ihre Darstellung weder missverständlich noch irreführend sein. Unzulässig wären nicht nur lückenhafte Unterlagen, sondern auch solche, bei denen Informationen unsystematisch aufgearbeitet sind, sodass sich ihr Inhalt dem Leser nicht ohne vertiefte eigene Analyse erschliesst.630 Ob dieser Standard im Einzelfall eingehalten ist, beurteilt sich anhand sämtlicher nach Art. 16 FusG zugänglich gemachten Informationen. Die Offenlegungspflicht umfasst nicht nur die gesetzlich vorgesehenen Mindestvorschriften631, sondern auch alle zusätzlichen relevanten Bestimmungen der in Art. 16 Abs. 1 FusG aufgelisteten Unterlagen.632 Je nach Komplexität der Transaktion und Wissensstand der Gesellschafter muss der Fusionsvertrag alle für die geplante Fusion objektiv und subjektiv wesentlichen Punkte enthalten und der Fusionsbericht (bzw. die Fusionsberichte) die geplante Transaktion so weit erläutern, dass sämtliche Gesellschafter in der Lage sind, ihren Entscheid fällen zu können.

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Sämtliche für die Fusion relevanten Faktoren müssen daher in den nach Art. 16 Abs. 1 FusG offenzulegenden Dokumenten abgebildet sein. Insbesondere die rechtsverbindlichen Bestimmungen des Fusionsvertrags sind offenzulegen. Dies gilt z.B. für Beendigungsklauseln, mit welchen geregelt wird, unter welchen Voraussetzungen eine Partei von einem Fusionsvorhaben Abstand nehmen darf, und welche Kostenfolgen damit verbunden sind. Die Kenntnis so­­genannter «break-up fees» oder «liquidated damages provisions», die festlegen, wer wen in welchem Umfang beim Scheitern der Fusionsverhandlungen ersatzpflichtig machen darf, kann für die Gesellschafter wesentlich sein. Ebenso wesentlich können fusionsvertragliche Bedingungen und Auflagen sein («conditions precedent»), die nebst dem Genehmigungsbeschluss der Gesellschafter erfüllt sein müssen, bevor die Transaktion vollzogen werden kann.633 Solche Bedingungen und Auflagen können für eine fusionierende Gesellschaft mit Kosten verbunden sein, vor allem wenn eine Bedingung oder Auflage nicht erfüllt werden kann und dies die Verpflichtung zur Bezahlung von Schaden­ersatz oder einer Vertragsstrafe an die andere Gesellschaft auslöst. Kritisch erscheint die Frage der Offenlegung von allen Formen von Side Letters, mit denen die Parteien versuchen, fusionsrechtlich relevante Aspekte ausserhalb des Fusionsvertrags zu regeln. Dabei handelt es sich regelmässig um Nebenpflichten, welche zwar für die Verhandlungen wesentlich sind, allerdings keinen Einfluss auf die Transaktion haben. Folglich sind solche Vereinbarungen nicht als rechtsverbindlicher Vertragsinhalt zu qualifizieren und müssen letztlich auch nicht offengelegt werden.634

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Die Offenlegung zusätzlicher Informationen, welche nicht in den in Art. 16 Abs. 1 FusG vorgesehenen Dokumenten enthalten sind, kann durch die berechtigten Geheimhaltungsinteressen der Gesellschaft beschränkt werden.635 Ob es sich bei Informationen um geheimhaltungsfähige Tatsachen handelt, ist durch Abwägung zwischen Geheimhaltungsinteressen der Gesellschaft einerseits und dem Informations- und Transparenzbedürfnis der Gesellschafter im Hinblick auf die Beschlussfassung andererseits zu ermitteln. Zu beachten gilt insbesondere, dass das Fusionsgesetz selber mit Bezug auf transaktionsrelevante Informationen keine Geheimhaltungspflicht der Gesellschafter vorsieht und je nach Rechtsform der Gesellschaften keine Geheimhaltungspflicht besteht.636 Hinsichtlich der gemäss Art. 16 Abs. 1 FusG offenzulegenden Dokumente kann die Gesellschaft daher mangels ausdrücklicher gesetzlicher Grundlage keine Beschränkung des Einsichtsrechts gestützt auf das Gesellschaftsinteresse geltend machen.